Gedanken des LEV-Vorstandsmitglieds Dr. Jens Meister: Die COVID-19 Pandemie, die Schule und die Wirtschaft

Ich bin Arzt und COVID-19 ist nicht die erste Epidemie, der ich begegne, aber die erste, in der ich auch Vater und Elternvertreter bin. In den verschieden Rollen gibt es vieles, was ich weiß, noch mehr was ich nicht weiß. Vielleicht ist es besser, das zu betrachten, was wir alle wissen, beziehungsweise nicht wissen.

Wir wissen nicht, wie das Virus SARS-Co-2 entstanden ist. Wir wissen noch nicht, wie wir die Erkrankung COVID-19 effektiv behandeln können. Wir wissen nicht, wo exakt wir im Verlauf dieser Epidemie stehen und ob eine zweite Welle kommen wird. Wir wissen nicht, wann ein Impfstoff vorhanden sein wird, mit dem die Pandemie letztendlich beendet werden kann (Schätzungen gehen von einem Jahr aus).

Wir wissen nicht, was diese ungewöhnliche Situation mit den Menschen macht über die akute körperliche Erkrankung hinaus. Insbesondere wissen wir nicht, was es mit unseren Kindern macht. Wir wissen nicht, was für sie die Folgen der Ausgangsbeschränkungen und des Homeschooling sind. Wir wissen nicht, wie viel relevanter Unterrichtsstoff den Kindern in den letzten fünf Wochen verloren gegangen ist und ob dieser jemals adäquat nachgeholt werden kann. Wir wissen nicht, wann die Schulen wieder vollständig geöffnet werden.

Was wir wissen ist, dass das menschliche Immunsystem in der Lage ist, die meisten Viren vollständig zu bekämpfen oder in Schach zu halten. Wir wissen, dass bei grippalen Infekten die Krankschreibung eine wichtige therapeutische Maßnahme ist, da durch die Ruhe das Immunsystem des Patienten gestärkt wird. Wir wissen, dass die Schwere einer Erkrankung nicht nur von der Immunität des Erkrankten abhängt, sondern auch von der Menge der aufgenommenen Erreger, – in dem Fall der Viruslast. Wir wissen, dass in den vergangenen Wochen Ausgangsbeschränkungen dazu beigetragen haben, die Viruslast in der Gesellschaft zu senken und so die Anzahl an COVID-19 Erkrankungen und Todesfällen zu vermindern.

Wir wissen, dass Kinder die Gesellschaft anderer Kinder brauchen und wir ihnen diese nicht auf Dauer vorenthalten können. Wir wissen, dass Kinder außerdem folgendes brauchen: Sicherheit, klare Strukturen, eine Perspektive, Fürsorge, gute Vorbilder und genug Zeit zum Lernen. Wir wissen, dass Kinder unnötigen Druck nicht gebrauchen können.

Aus obigen Wissen und Nichtwissen entstehen folgenden Gedanken.

Auf der individuellen Ebene gilt: Je höher die Viruslast und je schlechter die Immunität, umso mehr ist die Gesundheit des betroffenen Menschen bedroht.

Das gleiche kann für die gesellschaftliche Ebene angenommen werden. Dort ist die Viruslast die Dauer der Epidemie und die Immunität die Stabilität des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems.

Im Bezug auf die Schule kann man die Viruslast als den übermäßigen und unnötigen Druck ansehen, dem unsere Kinder ausgesetzt sind. Ihre Immunität wäre dann die Entschleunigung und Unterstützung, welche wir ihnen zukommen lassen.

Die COVID-19 Epidemie ist eine außerordentliche und belastende Situation, von der wir nicht wissen, wie sie sich in den nächsten Monaten oder im nächsten Jahr entwickeln wird.

Warum nehmen wir nicht den Druck von unseren Kindern und verlängern für alle die keine Abschluss- oder Übertrittsklasse besuchen das derzeitige Schuljahr bis zum Sommer 2021?

Warum entwickeln wir die schulische Infrastruktur nicht so weiter, dass unsere Kinder in den kommenden 15 Monaten in einem guten Mix aus Präsenzunterricht und Homeschooling das Schuljahr effektiv und in Ruhe beenden können?

Warum geben wir unseren Kindern nicht die Möglichkeit, in der jetzigen Situation etwas Zusätzliches und Neues zu lernen als das, was ihnen ein normales Schuljahr geboten hätte?

Aus einem derartigen Vorgehen ergäbe sich noch eine weitere Chance.

In einer Virusepidemie trägt die Entschleunigung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wesentlich dazu bei, Erkrankungen und Todesfälle zu reduzieren.

Die Entschleunigung im gesellschaftlichen Teilbereich Schule entlastet nicht nur die Kinder, sondern auch deren Lehrer und Eltern.
Vielleicht schafft diese Entlastung die Möglichkeit, den anderen gesellschaftliche Teilbereich Wirtschaft problemloser zu beschleunigen und vor weiterem Schaden zu bewahren…..

Münchberg, den 2.5.2020
Dr. Jens Meister